Lühr Henken, Der Ukraine-Krieg

Die VVN-BdA Bochum hat unterstützt vom Friedensplenum Bochum, von der DFG-VK Bochum/Herne und den NaturFreunden Langendreer Lühr Henken,  Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlags, zu einem Vortrag über den gegenwärtigen Krieg eingeladen. In dem sehr gut besuchten Vortrag mit lebendiger anschließender Diskussion entwickelte Lühr folgende Gedanken:

Der Ukraine-Krieg

An den Anfang meiner Ausführungen möchte ich das Ergebnis einer aktuellen repräsentativen Umfrage in Deutschland stellen. Durchgeführt wurde sie vom CeMAS-Institut. Ich weiß nicht, ob ihr davon gehört habt. Die Befragten sollten Stellung zu folgender Aussage nehmen: „Die NATO hat Russland solange provoziert, dass Russland in den Krieg ziehen musste.“[1] Man konnte mit Zustimmung oder mit teils-teils antworten. Ergebnis: Mit 19 Prozent stimmte fast jede:r Fünfte dieser Aussage zu, 21 Prozent stimmten dieser Aussage teilweise zu. Macht zusammen 40 Prozent. Im April lag die Zustimmung zur selben Frage bei 12 Prozent und die Teils-teils-Antwort bei 17 Prozent. Macht zusammen 29 Prozent. Das heißt, der Glaube an das hier herrschende Narrativ, Putin sei allein schuld am Krieg, verfängt immer weniger. Das Anliegen von CeMAS ist allerdings ein anderes: CeMAS will zeigen, wie russische angebliche Desinformation und Propaganda antidemokratische Grundhaltungen hierzulande zunehmend fördert. CeMAS wird von der Milliardärs-Familie Reimann finanziert.

Ich werde im Folgenden die Fakten benennen, die die NATO-Provokation aufzeigen.  Die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges:

Die NATO-Osterweiterungen

Russland sieht sich durch die Erweiterung des NATO-Gebiets bedroht, weil es für die USA und andere NATO-Partner Stationierungsräume erweitert. Die Vorwarnzeiten werden so gering, dass Abwehrmöglichkeiten entfallen und auch die unbeabsichtigte Eskalationsgefahr steigt. Russland hat bereits im April 2008, als die NATO in Bukarest den Beschluss fasste, der Ukraine und auch Georgien den NATO-Beitritt in Aussicht zu stellen, gefordert, diesen Beschluss zurückzunehmen. Deren NATO-Mitgliedschaft sei für Moskau eine rote Linie. Denn eine Ukraine in der NATO würde das Schwarze Meer für die US-Marine öffnen und neue Stationierungsräume entlang der russischen Grenze eröffnen.

Nachdem in Umsetzung des KSE-Vertrages von 1992 bis 1996 in Europa 60.000 schwere Waffen – vor allem jene Russlands und Deutschlands  – vernichtet wurden, der Warschauer Vertrag sich zwischenzeitlich aufgelöst hatte und die Truppen Russlands Deutschland und die ehemaliger Warschauer Pakt-Staaten in Osteuropa verlassen hatten, begann die Debatte über die NATO-Beitrittsperspektive Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns. Russlands Befürchtung, der Kalte Krieg beginne damit von Neuem, sollte durch die NATO-Russland-Akte 1997 begegnet werden. Der KSE-Vertrag, der Obergrenzen bei schweren Waffen für die beiden Blöcke festgelegt hatte, sollte an die neuen Gegebenheiten angepasst werden, indem nationale Obergrenzen festgelegt würden. Die NATO würde „keine zusätzliche permanente Stationierung substantieller Kampftruppen“ in den neuen Mitgliedsstaaten vornehmen – so heißt es in der Akte. Russland stimmte 1999 diesen ersten NATO-Erweiterungen unter der Bedingung  zu, dass der KSE-Vertrag – wie es in der Grundakte von 1997 festgelegt war – an die neuen Bedingungen angepasst wird.

1999 unterzeichneten die KSE-Teilnehmer in Istanbul das Anpassungsabkommen der KSE (AKSE) und alle OSZE-Mitglieder die Europäische Sicherheitscharta. Darin bekennen sie sich dazu, einen Raum gleicher und unteilbarer Sicherheit zu schaffen. Jeder Staat habe das Recht, sein Bündnis frei zu wählen. Allerdings sollen die Staaten ihre gegenseitigen Sicherheitsinteressen respektieren und ihre Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten stärken. Dieser wichtige Aspekt wird in westlichen Veröffentlichungen sehr häufig übersehen.

Wer nun dachte, eine stabile Zukunft sei gesichert, sah sich getäuscht.

Sehr verdienstvoll finde ich hier die Arbeit von Wolfgang Richter. Er ist Oberst a.D. und wissenschaftlicher Mitarbeiter der  Stiftung Wissenschaft & Politik (SWP). Man wundert sich, dass  in diesem von der Regierung finanziertem Think Tank eine solch kritische Stimme arbeitet. Sein Aufsatz, aus dem ich gleich zitieren werde, stammt vom 11. Februar 22[2], ist also unmittelbar vor der Eskalation an der Kontaktlinie im Donbass veröffentlicht worden. Ich zitiere Richter: „Das KSE-Anpassungsabkommen ist nicht in Kraft getreten, obwohl Russland es 2004 ratifiziert hat. Im (NATO)-Bündnis blockierten die USA die Ratifizierung des AKSE, nachdem George W. Bush sein Amt als US-Präsident angetreten hatte. Er wollte den Abzug verbliebener russischer Stationierungstruppen aus Georgien und der Republik Moldau erreichen, um den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens vorzubereiten. […] In der NATO bestand […] kein Konsens darüber, ob die Abzugsverpflichtungen auch für russische Peacekeeper in den Konfliktgebieten Abchasien und Transnistrien galten, da sie über Mandate der UN und der OSZE verfügten. Auch als Russland 2002 zunächst alle KSE-relevanten Waffensysteme aus Transnistrien und 2007 alle Stationierungstruppen aus Georgien abgezogen hatte, änderte sich die amerikanische Haltung zum AKSE nicht.“ Das heißt, die USA blockierten, dass es in Europa Obergrenzen für Waffen und Truppen gibt, verletzten damit die NATO-Russland-Grundakte, so dass der Bedingung Russlands, den NATO-Osterweiterungen zuzustimmen, von den USA der Boden entzogen wurde. Die NATO-Osterweiterungen haben nicht die Zustimmung Russlands und wurden trotzdem durchgeführt. Das festzustellen, ist äußerst wichtig.

Richter hebt zudem hervor: „Die baltischen Staaten unterliegen  keinen Rüstungsbeschränkungen und bilden für die NATO Stationierungsräume.“ Richter weiter: „Ferner verhinderten die USA, dass die Zusage, keine zusätzlichen ‚substantiellen Kampftruppen‘ dauerhaft zu stationieren, gemeinsam mit Russland definiert wurde. […] Dies wäre aber schon deshalb wichtig,“ so Richter, „weil Russland gleichlautende Verpflichtungen für die Grenzräume zu den baltischen Staaten, Polen und Finnland eingegangen ist.“  Das bedeutet, dass nicht definiert ist, was östlich und westlich der NATO-Grenze an Militär  aufgestellt werden darf. Der Aufrüstung in Grenznähe sind keine vertraglichen Grenzen gesetzt. Das wäre mit dem AKSE-Vertrag nicht möglich gewesen.

2002 traten die USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme aus, dem ABM-Vertrag, um weltweit solche aufstellen zu können. Das ist von grundsätzlicher globalstrategischer Bedeutung. Russland sind aktuell insbesondere jene in Polen und Rumänien ein Dorn im Auge, weil sie mit Tomahawk-Marschflugkörpern für Angriffsoptionen umfunktioniert werden können.

Die US-geführten völkerrechtswidrigen Angriffskriege gegen Jugoslawien 1999 und den Irak 2003 waren für Moskau auch Belege für den Bruch von Verträgen von westlicher Seite.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kritisierte Putin diese Entwicklung als Bruch der Vereinbarungen von 1997 und 1999 und unterstellte den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nachteil Russlands. Er suspendierte Ende 2007 den KSE-Vertrag, da dessen Gleichgewichtskonzept der Blöcke ohnehin obsolet geworden war.

Kommen wir zu Krim und Ostukraine: Hier habe ich mir für heute Arbeit erspart, weil ich aus dem Positionspapier des Bundesausschusses Friedensratschlag zitiere, an dem ich mitgearbeitet habe.

Der Ukraine-Konflikt eskaliert 2014

„Der Konflikt wurde heiß, als die Ukraine durch den Putsch 2014 unter westliche Vorherrschaft kam. Die maßgeblichen Kräfte bei dem von den USA und der EU geförderten verfassungs­widrigen Sturz des amtierenden Präsidenten, Wiktor Janukowytsch, waren extrem nationalistische, russophobe bis faschi­stische Kräfte – darunter der NPD-Partner Swoboda – sowohl ideologisch als auch praktisch auf der Straße, in den Sicherheitskräften und den Institutionen. Sie gewannen in der Folge einen dominierenden Einfluss. Der Staatsstreich stieß auf Widerstand in der Bevölkerung, vor allem bei der russischen.

Während die als Reaktion darauf erfolgte Abspaltung der Krim nahezu gewaltfrei verlief, kam es in den anderen überwiegend russischsprachigen Provinzen zu bewaffneten Aufständen. Sie gingen in einen Bürger­krieg über, der zwischen Kiew und den Volks­republiken Donezk und Luhansk bis zum russischen Einmarsch andauerte, und mehr als 14.000 Menschen­leben forderte.

Obwohl die ukrainische Regierung das völkerrechtlich bindende Ab­kommen Minsk II unterschrieben hatte, das einen besonderen Autonomiestatus für die abtrünnigen Provinzen innerhalb der Ukraine vorsah, boykottierte sie die Umsetzung – mit westlicher Duldung und Unterstützung. Die ukrainische Armee wurde fortan von den USA und Großbritannien massiv aufgerüstet und nach NATO-Standard ausgebildet.

Für alle Seiten war klar, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine rote Linie bedeutet ‒ und dies unabhängig davon, wer in Moskau regiert. Bedrohlich sind bereits die NATO-Truppen im Baltikum, von wo aus St. Petersburg schon mit Kurz­streckenraketen erreicht werden kann. Mit der Ukraine würde die NATO an eine weitere, 2000 km lange direkte Grenze zu Russland vorrücken. Die Vorwarnzeit für Enthauptungsschläge auf russische Zentren würde durch dort stationierte Mittelstrecken­raketen auf wenige Minuten sinken, während der potentielle Angreifer USA aus 10.000 Kilometer Entfernung vom Kriegsgeschehen agieren kann.“[3]

An dieser Stelle füge ich Erläuterungen zu der angesprochenen Enthauptungsschlagwaffe ein.

 

Neue US-Enthauptungsschlagwaffe „Dark Eagle“

Denn die USA lassen Hyperschallraketen für Armee, Luftwaffe und Marine entwickeln[4]. Das Programm hat „höchste Priorität“[5] für das Pentagon. Für Deutschland und Europa steht ein Déjà-vu ins Haus. Die Eckdaten der Hyperschallrakete „Dark Eagle“ von Lockheed-Martin, dem einstigen Hersteller der Pershing 2, sind klar: Reichweite mehr als 2.775 km, auf LKW landbeweglich und in Flugzeugen transportierbar, Stationierung ab 2023. Sie sollen nicht-nuklear bewaffnet werden.

Hyperschallraketen sind mindestens fünfmal schneller als der Schall. „Dark Eagle“ hat die 12fache Schallgeschwindigkeit. Dass sie in Europa stationiert werden sollen, ist klar,[6] wo sie in Europa stationiert werden sollen, ist nicht bekannt. Von wo sie kommandiert werden sollen, jedoch schon. Von Wiesbaden aus, beim Europa-Hauptquartier der US-Armee. Dort ist seit November 2021 eine 500 Mann starke „Multi-Domain-Taskforce“ (MDTF)[7] eingezogen, dessen 56. Artilleriekommando exakt jenes ist, welches bis 1991 für die Pershing 2 zuständig war. Die dem Kommando untergeordnete 41. Feldartilleriebrigade im bayrischen Grafenwöhr stellt damals wie heute die Raketenkanoniere. Deshalb liegt es nahe, dass die „Dark Eagle“ in Grafenwöhr stationiert werden. Moskau liegt 2.000 km von Grafenwöhr entfernt. Was für Ziele gibt es in über 2.000 Kilometern Entfernung, die unbedingt binnen weniger Minuten zerstört werden müssen? Reicht dafür nicht auch ein Tomahawk-Marschflugkörper?

 

Zu dieser Frage erklärte das US-Heer im September 2021, die Raketen „Dark Eagle“ würden eine einzigartige Kombination von Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Flughöhe liefern, um zeitkritische, stark verteidigte und hochwertige Ziele zu besiegen“.[8]

Gehen wir die genannten Parameter kurz durch. Geschwindigkeit: 12 fache Schallgeschwindigkeit zu Unterschall bei Tomahawk. Zur Manöverfähigkeit: Im Unterschied zu ballistischen Raketen, die eine berechenbare Flugparabel beschreiben, ist „Dark Eagle“ lenkbar, so dass ein Abfangen unmöglich ist. Jedenfalls bisher.  Das von der Hyperschallrakete gelöste Gleitvehikel schlägt samt konventionellem Sprengstoff mit Hyperschallgeschwindigkeit präzise ein. Volltreffer in ein Haus. Zeitkritisch bedeutet, es zielt nicht auf unbewegliche Ziele wie zum Beispiel militärische Infrastruktur, sondern auf bewegliche Ziele, die ihren Standort ändern. Stark verteidigt meint, durch Raketenabwehr verteidigt, und Hochwertziel meint politische oder militärische Führungspersonen. Wegen des Kriteriums zeitkritisch, kommen Tomahawk nicht in Frage. Sie wären 2 Stunden unterwegs und von russischer Raketenabwehr zerstörbar. Hyperschallraketen sind Überraschungswaffen, die die politische Führung Russlands töten sollen. „Dark Eagle“ ist eine Hightech-Waffe. Die Angaben über die Kosten für nur einen Schusses reichen von 40 bis 106 Millionen Dollar. [9] 66 „Dark Eagle“ sind bestellt, davon 48 Stück für Testzwecke. Bei der Differenz von lediglich 18 für den Einsatz wird es nicht bleiben. Allein die drei MDTFs (in USA, Deutschland und Ostasien) erhalten je 8 Raketen. Sie sollen 2023 (Prototyp), 2025 (Serie) und 2027 (Serie) bestückt sein. Zum Vergleich, von den Pershing II wurden seinerzeit 300 bestellt.

Die russische Führung hat die Bedrohung durch US-Hyperschallraketen wahrgenommen. Präsident Putin hat das in einer Rede an die Nation am 21. Februar 2022 sehr prominent erwähnt,  als er sich mit den Gefahren auseinandersetzte, die aus einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erwachsen. Er sprach die Stationierung bodengebundener Angriffswaffen der USA in der Ukraine an, wie sie nach der „Zerstörung“ des INF-Vertrags 2019 durch Trump ermöglicht wird: „Die Flugzeit von Marschflugkörpern ‚Tomahawk‘ nach Moskau beträgt weniger als 35 Minuten, für ballistische Raketen aus dem Raum Charkow – 7 bis 8 Minuten und für die Hyperschall-Schlagmittel – 4 bis 5 Minuten. Das bezeichnet man als ‚das Messer am Hals.‘“[10] Putin fürchtet einen Enthauptungsschlag. Für mich ist dies ein wichtiger Grund, weshalb Russland vehement gegen die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO ist und diesen fürchterlichen Krieg führt.

Denn bei einer Flugzeit von 5 Minuten bleibt keine Möglichkeit, militärisch auf den Überraschungsangriff zu reagieren, nicht einmal um einen Gegenschlag zu starten, die fünf Minuten werden allein für die Verifikation benötigt. Je weiter von Moskau entfernt „Dark Eagle“ stationiert werden, desto eher besteht eine Reaktionsmöglichkeit.

Was wird Putin unternehmen, wenn „Dark Eagle“ in Deutschland stationiert werden, nachdem Scholz dazu grünes Licht gegeben hat? Sind Wiesbaden, Grafenwöhr, Stuttgart als EUCOM- und AFRICOM-Zentrale im Visier russischer Atomwaffen oder Hyperschallwaffen oder sind es die Kabelverbindungen zwischen den US-Kommandozentralen? –  Denn ein russischer Präventivschlag wäre völkerrechtlich legitim. Wir wissen es nicht. Aber die Fragen sind alarmierend genug.

Eins ist klar: Kommen die „Dark Eagle“ nach Europa, steigen die Spannungen ins Unermessliche. „Dark Eagle“ wirken in höchstem Maße destabilisierend. Die Bundesregierung darf „Dark Eagle“ in Deutschland nicht zulassen, die Multi-Domain-Taskforce muss Deutschland verlassen.

Das war der Exkurs zu Dark Eagle. Nun zurück zum Text des Bundesausschusses Friedensratschlag. Ich zitiere: „Am 10. November 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine eine neue, offensiv gegen Russland gerichtete Charta der strategischen Partnerschaft, die u.a. den NATO-Beitritt der Ukraine und die Rück­eroberung der Krim als Ziel formuliert. Diese Charta überzeugte Russland davon, so Henri Guaino, führen­der Berater von Nicolas Sarkozy in dessen Zeit als französischer Präsident, dass es angreifen muss oder angegriffen wird.

Moskau unternahm im Dezember 2021 einen letzten Versuch, die Bedrohungslage durch vertragliche Ver­einbarungen zu entspannen.“

  • Russland hat am 12.2021 von den USA und von der NATO Sicherheitsgarantien[11] gefordert und ihnen getrennte Vertragsentwürfe vorgelegt. Die wesentlichen Punkte im Entwurf für die NATO sind: Rückzug von NATO-Truppen, die nach 1997 in den neuen Mitgliedsländern aufgestellt wurden. Das schließt auch die US-Raketenabwehrstellungen in Rumänien und Polen ein, die leicht mit angriffsfähigen Tomahawk-Marschflugkörpern bestückt werden können.
  • Keine Seite stationiert Kurz- und Mittelstreckenraketen, die das Gebiet der anderen Seite erreichen können. Man beachte, hier sind auch jene mit konventionellen Sprengköpfen gemeint.
  • Die NATO soll auf ihre weitere Osterweiterung verzichten.
  • Die NATO-Staaten führen keine Manöver in Nicht-Mitgliedstaaten durch, also nicht in der Ukraine, im Südkaukasus und Zentralasien.
  • Beidseits der Grenze zwischen Russland und ihren Bündnispartnern der OVKS einerseits und der NATO-Staaten sollen in einer Zone, dessen Breite festzulegen ist, keine Manöver oberhalb einer Brigadestärke durchgeführt werden dürfen.
  • Die Seiten lassen sich in ihren Beziehungen von den Grundsätzen der Zusammenarbeit, der gleichen und unteilbaren Sicherheit

Im Entwurf für die USA kommt

  • das Verbot hinzu, mit schweren Bombern zu fliegen und diese außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets zu stationieren, von wo aus sie das Gebiet der anderen erreichen können. Selbiges soll für die Stationierung von Kriegsschiffen außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets gelten.
  • Im Dialog sollen Mechanismen entwickelt werden, die über der Hohen See Zusammenstöße und Gefährdungen vermeiden.
  • Verboten werden soll die Stationierung von Kernwaffen außerhalb des eigenen Territoriums. Das richtet sich gegen die „Nukleare Teilhabe“ der NATO in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei, wo insgesamt etwa 100 Atombomben lagern, mit denen Ziele in Russland zerstört werden können.

Die russischen Forderungen sind mit denen der Friedensbewegung in wesentlichen Punkten gleich. Insbesondere, was die „Nukleare Teilhabe“, die Manövertätigkeit und die NATO-Osterweiterung angeht. Die Friedensbewegung fordert seit Jahren von unserer Regierung Entspannung statt Konfrontation.  Auch die bundesweite Kampagne „Abrüsten statt Aufrüsten“, unter die 180.000 Unterschriften gesammelt wurden, dient diesem Ziel.

USA und NATO gingen auf die wesentlichen Punkte der russischen Forderungen nicht ein. Insbesondere bleibe die Tür für neue Mitglieder offen, gaben sie an.

Nun kommen wir in die entscheidende Phase vor dem Krieg. Wir sind Mitte Februar.

Vorweg noch ein Exkurs zu den konventionellen Kräfteverhältnissen von Russland und NATO. Russland ist der NATO im konventionellen Bereich unterlegen. Russland unterhielt vor dem Krieg westlich des Ural 540.000 aktive Soldaten, die NATO in Europa zwei Millionen. Die NATO hat insgesamt 3,2 Millionen Soldaten stationiert, Russland insgesamt 900.000. Russlands Militärausgaben fielen sogar: von 2014 knapp 85 Milliarden auf im letzten Jahr 66 Mrd. Dollar,[12] während die der NATO sich von damals  943 auf 1.175 Mrd. Dollar[13] im letzten Jahr erhöhten. Das Verhältnis hat sich von 11:1 auf 18:1 zugunsten der NATO verändert.

Um die Kräfteverhältnisse in und um die Ukraine zu beschreiben, ist Oberst a.D. Richter wieder eine gute Quelle. Im schon zitierten Aufsatz[14] vom 11. Februar schreibt er, dass „nach westlichen Schätzungen die russische Truppenstärke im Umkreis der Ukraine etwa 100.000“ (S. 2) beträgt. Und: „am 26. Dezember 2021 gab Moskau eine Reduzierung von 10.000 Soldaten bekannt. Nicht bestätigt haben sich damit Voraussagen von US-Geheimdiensten, Moskau werde seine Truppenstärke bis Januar 2022 auf etwa 175.000 anheben, um eine Invasion der Ukraine zu beginnen“ (S.2) . Richter schreibt, Moskau unterstelle, Kiew wolle den Konflikt gewaltsam lösen, untermauert das aber leider nicht,  und vermittelt so den Eindruck, als sei da eigentlich nichts dran. Denn er berichtet nicht, dass bereits Anfang Dezember Russland der Ukraine den Vorwurf machte, „mehr als 120.000 Soldaten an die Linie zu den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten verlegt zu haben,“[15] was damals hier als dpa-Meldung weit verbreitet worden war, was aber den Haken hatte, dass es sich halt um eine russische Behauptung handelte, die von westlicher Seite keine Bestätigung fand. Erst am 3. März, also 10 Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs fand sich die Bestätigung in der FAZ: Ich zitiere: „Wegen des seit Jahren währenden Krieges im Donbass sind etwa vierzig Prozent der ukrainischen Armee und siebzig Prozent ihrer Feuerkraft in der Nähe der ‚Kontaktlinie‘ zu den Separatistengebieten zusammengezogen.“[16] Das ist sehr bedeutsam, denn die Gesamtzahl der bewaffneten Aufständischen östlich der Kontaktlinie zählten laut International Institute for Strategic Studies nur zusammen etwa 34.000 Bewaffnete[17]. Also eine ungleiche Ausgangsposition.

Richter konstatiert in seinem Aufsatz vom 11. Februar, dass Russland mit den verfügbaren Kräften zwar in der Lage wäre, die prorussischen Rebellen im Donbass  zu unterstützen, aber nicht die ukrainische Armee mit großangelegtem Angriff zu zerschlagen. Richter stellt zudem fest, „Die Ukrainischen Streitkräfte sind heute weitaus kampfkräftiger als 2014. […] Mittlerweile sind Kiews Streitkräfte auf gut 250.000 aktive Soldaten und über 900.000 Reservisten angewachsen. Die Nato hilft, die Führungsfähigkeit zu verbessern; die USA stellten Aufklärungsergebnisse, Artillerieradargeräte und – wie auch Großbritannien – Panzerabwehrraketensysteme bereit.“ (S. 2) Richter stellt fest, dass Russland zwar 900.000 aktive Soldaten habe, mit 3.300 Kampfpanzern den 1.000 von Kiew und mit 1.300 Kampfflugzeugen den 125 von Kiew „deutlich überlegen“ sei. Dieser Vergleich sei aber für die subregionale Bewertung „nicht aussagekräftig“. (S.2) So Richter. Denn Russland verfüge über die größte Landfläche und die zweit längsten Grenzen weltweit.

„Mit etwa 280.000 Heeressoldaten muss es mehrere strategische Richtungen abdecken, von der Arktis bis zum Schwarzen Meer, vom Kaukasus bis Zentralasien und von der Ostsee bis zum Pazifik.“ (S. 2)

Die OSZE beobachtete seit dem Abend des 15.2. in ihren täglichen Berichten[18], dass die Waffenstillstandsverletzungen westlich und östlich der Kontaktlinie im Donbass stark zunahmen. In der Woche bis zum 22.2. wurde der gegenseitige Beschuss täglich mehr. Verzehnfachungen bis Versechszehnfachungen wurden gezählt. Konkret: 153 Waffenstillstandsverletzungen am 15.2.,  2.400 am 19.2.. Leider lässt sich aus den noch so detaillierten Tabellen der OSZE der jeweilige Auslöser der Eskalation zu oft nicht ermitteln. Die OSZE selbst nahm nie eine Schuldzuweisung vor. Allerdings kann für die Stadt Luhansk klar ermittelt werden, dass die Kiewer Seite am 15.2. um 19:50 Uhr[19] dort mit den Angriffen begonnen hat. Einen ganzen Tag lang zuvor war dort nämlich nichts los gewesen. Die grafischen Darstellungen der OSZE, worin die Orte dieser Waffenstillstandsbrüche und Explosionen in der Zeit vom 15. bis 22.2. markiert sind, belegen, dass von Anfang an diese schätzungsweise im Verhältnis 3 bis 5 zu 1 häufiger auf der östlichen Seite zu verzeichnen sind. Das bedeutet, dass von westlicher – also ukrainischer Seite – aus mehr Angriffe erfolgt sind. Das heißt ganz klar, Kiew hat eskaliert. Der Beginn und der Zeitraum dieser Eskalation sind bedeutsam. Ich komme darauf zurück.

Die Regierungen der „Volksrepubliken“ ordneten aufgrund des zunehmenden Beschusses am 18.2. die Evakuierung der Bevölkerung nach Russland an. Putin hat  diese  „Volksrepubliken“ am 21.2.22 per Dekret  als selbständig anerkannt – und zwar in den Grenzen der ukrainischen Oblaste, die weiter westlich liegen als die Kontaktlinie zur Zeit dieser Anerkennung.

Am 22.2.22 unterzeichnete Putin mit den Chefs der „Volksrepubliken“ einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand, der zunächst über 10 Jahre Bestand haben soll, und der beiden Seiten das Recht einräumt, „militärische Infrastruktur und Stützpunkte auf dem Territorium des jeweils anderen Partners zu errichten, zu nutzen und auszubauen.“[20]

Wie kam es zu dieser Abfolge innerhalb von einer Woche, die damit begann, dass Putin auf der Pressekonferenz mit Scholz in Moskau am 15.2. noch gesagt hatte, dass eine Anerkennung der „Volksrepubliken nur im Rahmen des Minsker Prozesses geschehen könne, dessen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft seien.“[21] Der Minsker Prozess kam in dieser Woche bekanntlich nicht voran, und trotzdem die Anerkennung. Hat die FAZ mit ihrer Behauptung womöglich recht, wenn sie dies als ein Beispiel dafür wertet, so wörtlich, „wie der russische Präsident lügt“ [22]?

Schauen wir uns diesen Vorgang genauer an. Dabei spielt der Besuch von Scholz bei Putin und diese Pressekonferenz in der Tat eine Rolle.

Scholz hatte Selensky vor seinem Besuch bei Putin am 14.2. in Kiew besucht. Er wartete danach tatsächlich mit ermutigenden Vermittlungsergebnissen auf. Es keimte sogar kurzfristig Hoffnung auf Entspannung auf. Die NZZ berichtete vom Scholz-Besuch in Kiew. Ich zitiere: „Der deutsche Kanzler scheint vor allem eine Zusage Selenskis als konkreten Erfolg und Beitrag zur Realisierung des Minsker Abkommens zu sehen: Die ukrainische Regierung will Gesetzesentwürfe für den besonderen Status der jetzt nicht unter Kontrolle stehenden Teile des Donbass sowie für die Abhaltung von Lokalwahlen vorlegen. Das solle zeigen, dass es keine Vorwände gebe, die Gespräche zur Umsetzung von ‚Minsk‘ nicht fortzusetzen, betonte Scholz.“[23]

Und die FAZ berichtete, „Scholz sagte nach seiner Unterredung mit […] Selenkyj, das Gespräch sei ‚sehr, sehr wertvoll‘ gewesen. Selenskyj habe zugesichert, dass die Ukraine jene Gesetzestexte vorlegen werde, die den Minsker Friedensprozess voranbringen sollen.“[24] Tags drauf, also am 15.2., brachte Scholz die frohe Kunde zu Putin mit nach Moskau. In Erinnerung sind uns noch die Bilder mit dem langen weißen Tisch und die Pressekonferenz. Offensichtlich hatte Putin beim Treffen mit Scholz den Zusagen Selenskijs nicht den Stecker gezogen, sondern hatte positiv auf den Schritt des ukrainischen Präsidenten reagiert. Denn sonst wäre es nicht zu folgender Begebenheit auf Scholz‘ Rückflug von Moskau nach Berlin gekommen. Der Spiegel berichtet: „Mitte Februar besucht Scholz Wladimir Putin in Moskau, im Gepäck das Versprechen der ukrainischen Regierung, endlich die Gesetze zur Umsetzung des Friedensabkommens von Minsk auf den Weg zu bringen. Ist jetzt Raum für eine friedliche Lösung? Trotz 150.000 russischer Soldaten nahe der Grenze?“[25] fragt Der Spiegel. Und weiter: „Auf dem Rückflug (von Moskau, L.H.) dringt dem Kanzler die Erleichterung aus jeder Pore, er wirkt geradezu aufgekratzt. Träumt er schon von allen Parteien an einem großen Verhandlungstisch um sich als Moderator, der nachhaltig Frieden aushandelt zwischen Moskau, Kiew und der Nato? Warum nicht?“[26]

Warum es nicht dazu kam, erfährt der SPIEGEL-Leser prompt: „Bald nach der Landung in Berlin folgt die Ernüchterung. Der Kreml stockt die Truppen an der ukrainischen Grenze weiter auf. Die Hoffnung, sie war trügerisch.“[27] Das heißt, aus Sicht des SPIEGELS: Putin hat Schuld am Scheitern.  Ist es wirklich so einfach?

Berichtet wurde hierzulande über die Eskalation an der Kontaktlinie sehr oberflächlich, nämlich dass sich beide Parteien gegenseitig dafür die Schuld gaben. Allerdings nahm die US-Regierung schon am 17.2. eine andere Bewertung vor: Ich zitiere aus der FAZ über die Vorgänge im Donbass: „Hinzu kamen Berichte über heftigen Artilleriebeschuss durch prorussische  Separatisten in der Ostukraine, die durch die OSZE-Beobachtermission bestätigt wurden. Man sei noch dabei dies zu analysieren, sagte (US-Verteidigungsminister, L.H.) Austin.“ Eine Durchsicht der angesprochenen OSZE-Berichte belegt jedoch nur ein einziges Artilleriefeuer am 16.2., das von Kiewer Seite ausging und am Vormittag des 17.2. weitere vier Artillerieangriffe, die ebenfalls alle von unter Kiewer Kontrolle stehenden Gebieten ausgingen. Die Bedeutung der Lügen von Austin waren im selben Atemzug zu erfahren: „‚Wir haben seit einiger Zeit gesagt, dass Russland so etwas tun könnte, um einen militärischen Konflikt zu rechtfertigen.“[28] Ins selbe Horn stießen US-Außenminister Blinken und der ukrainische Präsident Selenski. Blinken fabulierte im UN-Sicherheitsrat über mögliche False-Flag-Attacken der Russen in der Ukraine und russische hybride Kriegsführung. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 18.2. warf er Moskau vor, „die Lage in den Separatistengebieten im Osten der Ukraine anzuheizen, um damit einen Vorwand für ‚weitere Aggressionen‘ gegen die Ukraine zu schaffen.“[29] Das war gelogen.

Selenskis Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag, den 19.2., war entscheidend. Wer nun erwartet hätte, dass die Ukraine deeskalierend wirkt, sah sich getäuscht. Es wäre hier die Möglichkeit gewesen, anzukündigen, nun endlich die von Bundeskanzler Scholz öffentlich so begrüßten Gesetze auf den Weg zu bringen, damit Minsk II umgesetzt werden kann, damit entspannt und verhandelt wird. Das geschah nicht! Selenski schob den Russen die Schuld zu. Er sagte über die Vorgänge im Donbass: Ich zitiere: „Die letzten beiden Tage sind besonders aufschlussreich. Massive Angriffe unter Verwendung von Waffen, die nach den Minsker Vereinbarungen verboten sind.“[30] Er erwähnte nicht, dass seine Truppen die Hauptakteure waren.

Das einzige, was Selenski dort zum Minsk-Prozess sagte, war: „Wir setzen die Vereinbarungen im Minsk- und Normandie-Format konsequent um.“[31] Was nicht stimmte. Er nutzte in München erneut die Weltbühne, um die Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO sowie Waffen vom Westen zu fordern, also genau  das, was Moskau ablehnt. Blinken und Selenski hätten in München die Wende zu Verhandlungen unmissverständlich stellen können. Das haben beide nicht getan. Diese Chance auf Frieden wollten sie nicht  nutzen. Im Gegenteil, sie haben Russland diesen Krieg führen lassen, um ihn verurteilen zu können. Sie lehnten Verhandlungen über Sicherheitsgarantien für Russland ab und forcierten den Beschuss der „Volksrepubliken“, und behaupteten zudem, dass die Russen die Übertäter dafür seinen. Es war nicht Putin, der hier der Lüge überführt wurde, sondern Selenski legte – mit Unterstützung der USA oder auf dessen Geheiß – binnen weniger Tage eine politische Wende sondergleichen hin und kehrte einer politischen Lösung des Ukraine-Konflikts den Rücken zu.

Während am 18.2. die Evakuierungen aus den Volksrepubliken anliefen, meldete die EU, dass sie die Sanktionen gegen Russland abschließend vorbereitet habe. Der Begriff präzedenzlos wurde dafür verwendet. Am 18.2. führte Putin mit Lukaschenko zusammen Übungen der russischen Nuklearstreitkräfte durch. Die NATO erhöhte zugleich ihre Einsatzbereitschaft, „um Soldaten der Schnellen Eingreiftruppe zügiger verlegen zu können.“[32] Nach den Auftritten von Selenski und Blinken und der fortgesetzten Eskalation im Donbass durch Kiew teilte die belarussische Seite am Sonntag, den 20.2., mit, dass die Manöver in Belarus fortgesetzt werden.[33] Russland erkannte die „Volksrepubliken“ am 21.2. an, am 22.2. erfolgte der Hilferuf der „Volksrepubliken“ auf Basis des Freundschaftsvertrags und Putin ordnete die Entsendung von „Friedenstruppen“ in die neuen Republiken an. Russland griff am 24.2. morgens um 4 Uhr mit Bodentruppen an vier Fronten  an, nördlich von Kiew, nördlich von Charkiw, von der Krim aus und von den nun anerkannten Volksrepubliken aus. Am ersten Kriegstag wurden in allen Landesteilen Luftangriffe auf militärische Ziele verzeichnet. Als Ziel benannte Putin, die Ukraine solle „entmilitarisiert“  und „entnazifiziert“ werden. Diese Vokabeln fielen in diesem Zusammenhang zum ersten Mal und unvermittelt. An eine Besetzung des Landes sei nicht gedacht. Dass dieser Angriff „unprovoziert“ sei, wie westliche Regierungen unisono behaupten, trifft nicht zu.

Eine sehr interessante Begründung für den Zeitpunkt des Angriffs gab die stellvertretende Direktorin des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS), Florence Gaub, bei Markus Lanz, am 22.3.22. Gaub, die alles andere als putinfreundlich auftrat, sagte, die ukrainische Armee habe sich nach 2014 mit Unterstützung von Kanada, den USA und Großbritannien „massiv reformiert“ und sich hin auf NATO-Standards bewegt. Die Ukrainer, so Gaub, „waren eigentlich fast so eineinhalb bis zwei Jahre entfernt, einen Status, einen Standard, zu haben, wo sie sich die Krim hätten zurückholen können. Deswegen konnte auch Russland nicht mehr warten. Sie mussten jetzt zuschlagen, denn in zwei Jahren hätten sie einen Gegner gehabt, der noch viel schwieriger zu überwältigen gewesen wäre als wir es heute haben.“ [34]

Ich fasse die Ursachen für den Krieg zusammen:

  1. Die Osterweiterungen der NATO wurden gegen den Willen Russlands durchgesetzt. Dadurch wurde die NATO-Russland-Grundakte seitens der NATO verletzt. Russlands Wunsch nach Aufhebung der Zusage, die Ukraine und Georgien aufzunehmen, ignoriert die NATO. Sie betreibt militärisch abgesicherte Machtpolitik an den russischen Grenzen.
  2. Die USA kündigten den ABM- und den INF-Vertrag, um weltweit Raketenabwehrsysteme bzw. Mittelstreckenwaffen gegen Russland und China an Land aufstellen zu können. Sie destabilisieren damit das weltweite strategische Gleichgewicht.
  3. Das russische Bemühen, seine existentielle Bedrohung durch die NATO-Osterweiterung und die Vertragskündigungen der USA mittels Sicherheitsgarantien zu beenden, lehnen USA und NATO ab. Sie wollen keinen Sicherheitsdialog, der über den START III-Vertrag hinaus geht.
  4. Die Weigerung Kiews, den Minsk-II-Prozess endlich durch notwendige gesetzliche Maßnahmen in Gang zu setzen, markierte das Ende des Verhandlungsweges zwischen der Ukraine, der NATO und Russland.
  5. Die von Kiewer Seite forcierte Eskalation an der Kontaktlinie des Donbass Mitte Februar bedrohte die russisch orientierte Bevölkerung östlich der Kontaktlinie existentiell, so dass ein längeres Zuwarten Russlands vor dem Zuhilfekommen als fahrlässig hätte gewertet werden muss.

Diese Fakten waren bestimmend für einen vor allem von den USA und der Ukraine provozierten russischen Angriffskrieg. Sie als Desinformation zu diskreditieren, erschwert einen Dialog über die Genese des Krieges und damit für seine Lösung am Verhandlungstisch.

Nichtsdestotrotz ist dieser Angriffskrieg Russlands völkerrechtwidrig, sowohl als es um die militärische Verteidigung der von Kiew angegriffenen Bewohner des Donbass östlich der Kontaktlinie ging als auch als ukrainisches Territorium der vier Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Schaporoschschje annektiert wurde.[35]

 

Welche Aussichten zeichnen sich für den Kriegsverlauf und seine Beendigung ab?

Klar ist, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werden muss. Je eher das geschieht, desto weniger Tote, Verletzte und Geflüchtete. Etwa 7,8 Mio. Menschen haben die Ukraine verlassen, so dass von 43,4 Mio. vor dem Krieg nur noch 35,6 Mio. im Land verblieben sind. Ein Minus von 18 Prozent. Unter den im Land Verbliebenen sind etwa 6,2 Mio. Vertriebene.

Für ein Einfrieren der Kampfhandlungen und später für einen Waffenstillstand sind Verhandlungen notwendig. Die Forderungen nach Diplomatie nehmen weltweit spürbar zu. Aktuell wünschen 55 Prozent der Deutschen sich mehr deutschen Einsatz für Diplomatie, um den Ukraine-Krieg zu beenden.[36] Ein Plus von 14 Prozent gegenüber dem Juni. Der ukrainische Präsident hat Verhandlungen mit Putin abgelehnt, mit einem andern Präsidenten verhandeln ja, aber nicht mit Putin. Er hat das per Dekret für sich und für alle Ukrainer festgelegt. Realistisch betrachtet ist damit keine Waffenruhe auf einem Verhandlungsweg in Sicht, weil ein Rücktritt oder Sturz Putins nicht in Sicht ist.

Die russische Seite hat immer wieder Verhandlungen angeboten. Allerdings seien die frisch annektierten vier ukrainischen Oblaste tabu. Seit 2020 verbietet ein russisches Gesetz die Veräußerung russischen Territoriums.

Der Krieg wird fortgesetzt. Er ist in eine neue Phase getreten.

Auf strategischer Ebene hat Russland sein Handeln verändert. An der Front versucht es seine Positionen winterfest zu sichern. Positionen, die militärisch nicht zu halten sind, wie um Charkow und Cherson wurden geräumt. Im Süden und im Norden graben sich die russischen Heeresgruppen ein. Sie werden im Dezember und Januar verstärkt werden durch Reservisten der Teilmobilmachung, die 317.000 Soldaten betrifft.

Das wird vor allem die infanteristischen Fähigkeiten Russlands stärken. Seit Mitte September und sehr verstärkt seit dem 10. Oktober verlegt sich die russische Armee massiv – und das ist die neue Strategie – mit Hilfe von Marschflugkörpern und Kamikaze-Drohnen auf die Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur, die sowohl die Zivilbevölkerung trifft als auch das Militär.

Die ukrainische Eisenbahn ist nach Aussagen ihres Chefs von Mitte September – also vor den intensiven russischen Luftangriffen – so zerstört, dass sie nur noch 50 Prozent des Personenverkehrs und 40 Prozent des Frachttransports  im Vergleich zum Vorjahr umfasst.[37] Die elektrifizierten Strecken – etwa 45 Prozent des Streckennetzes –  waren hier besonders betroffen, weil Russland Anschläge auf etwa die Hälfte der 150 Trafos im Land verübt hat.[38] Die Trafostationen sind der neuralgische Punkt. Sie sind schwer zu ersetzen. Als Bauzeit werden wenige Monate bis zu einem Jahr angegeben.[39] Die ukrainische Eisenbahn verfügt über drei Dutzend Umspannwerke, davon 18 an der Grenze zu Osteuropa. Angriffe darauf würden den gesamten Eisenbahnverkehr für den Frachttransport lahmlegen, denn die Waren kommen aus dem Westen.

Das Rückgrat der Stromversorgung der Ukraine bilden die 750 kV-Überlandleitungen.  Ganz besonders bedrohlich wird es, wenn die Trafos der 750 KV-Leitungen zu den 330 KV-Leitungen zerstört werden. Von diesen Umspannwerken liegen 9 auf dem von Kiew kontrollierten Gebiet.[40] Sie sorgen dafür, dass der in den noch drei angeschlossenen AKWs erzeugte Strom landesweit abgeführt wird. Bisher hatte Russland diese Trafos verschont. Jedoch wurden allein drei davon, am 18. Oktober von Russland zerstört. Es bleiben nur noch sechs. Die Trafos sind Spezialanfertigungen, die es nur in Osteuropa gibt und dessen Bau mehr als ein Jahr dauert.[41] Wenn sämtliche 750 KV-Umspannwerke zerstört sind, können die AKWs nur noch regional Strom liefern. Die Folge: Das Stromnetz wird noch instabiler, die Stromabschaltungen noch länger. Die Schäden würden vor dem Winter nicht reparierbar. Die Folgen des Stromausfalls: die Wasserversorgung bricht zusammen, die Kläranlagen versagen, die Kommunikation wird sehr stark eingeschränkt, ebenso die Lebensmittelversorgung – Das beschreibt nur die Hauptdilemmata. Die Ukraine hat ca. 70 Umspannwerke für 330 KV-Leitungen. Die russische Luftwaffe hat etwa 75 Umspannwerke angegriffen,[42] wie viele darunter die für  330 KV-Spannungen sind, ist unklar.

Russland hat seit geraumer Zeit Heizkraftwerke angegriffen, so dass vor dem massiven Angriff am 10. Oktober bereits fast die Hälfte außer Betrieb war.[43] Danach kam noch das eine oder andere hinzu. Wie viele genau, ist unklar. Klar ist: „40 Prozent der Energieinfrastruktur sind schon zerstört.“[44]

Die Zahlen machen eins deutlich, die Ukraine steht kurz vor dem Black out. Und das kurz vor Einbruch der Frostperiode, die in Kiew zweistellige Minusgrade bringen kann.

Das heißt, die russische Strategie ist auf einen kompletten Zusammenbruch der Strom-, Wasser- und Fernwärmeversorgung der Ukraine ausgerichtet. Ziel ist der gesellschaftliche Kollaps, der vor allem bei zunehmender Kälte zur Flucht in Millionenhöhe  aus dem Land führen wird. Um Flüchtlinge aufzufangen, bereiten Länder Osteuropas Räume dafür vor. Beispielsweise hat die Slowakei, die bisher 100.000 Menschen aus der Ukraine beherbergt, Maßnahmen eingeleitet, um 700.000 Menschen aufzunehmen, wie Tagesschau.de[45] kürzlich meldete. Berlin, die erste Anlaufstelle für Geflüchtete in Deutschland, sucht Großflächen, um diese für Geflüchtete aufzubereiten.

Kiew versucht dem Kollaps  entgegenzusteuern und verlangt nach 20.000 Dieselgeneratoren, 1.500 mobilen Heizkraftwerken, 3.000 mobilen Wasseraufbereitungsanlagen und 300.000 elektrischen Heizgeräten.[46] Ein Vergleich dieser Wunschliste, die die FAZ veröffentlichte, mit dem tatsächlichen Bedarf nach Strom, Wasser und Wärme für bis zu 15 bis 20 Millionen Haushalte macht klar, auf welch prekäre Lage die Ukraine zusteuert. Deutschland hat gerademal 200 Dieselgeneratoren geliefert.

Denn Russland verfügt nachwievor über die Eskalationsdominanz. Dazu ein paar Zahlen. Laut ukrainischen Militärangaben verfügte Russland vor dem Angriff im Februar über 7.000 Kurz- und Mittelstreckenraketen. Von diesen habe es in den ersten fünf Monaten des Kriegs 3.650 abgefeuert.[47] Somit gut 700 pro Monat, so dass demnach derzeit nach achteinhalb Monaten Krieg 6.000 Raketen verschossen sein müssten. Somit müssten noch 1.000 davon vorhanden sein. Hinzu kommen Kamikaze-Drohnen:  Ebenfalls nach ukrainischen Angaben hat der Iran die Lieferung von 2.400 Drohnen zugesagt und bereits 1.750 geliefert. [48]

Ob die ukrainischen Angaben zu Raketen und Drohnen stimmen, lässt sich nicht überprüfen. Aber auch bei den Drohnen blieben für Russland demnach noch Hunderte im Arsenal. Davon genügen Bruchteile, um die neuralgischen Punkte zu treffen. Flugabwehrmaßnahmen helfen da nicht.

Möglicherweise ist diese sehr düstere Perspektive die Ursache dafür, dass laut Bericht der Washington Post, die US-Regierung die ukrainische Regierung ermutigt habe, ihre öffentliche Weigerung aufzugeben, sich an Friedensgesprächen zu beteiligen. Die Tagesschau berichtete: „Der Zeitung zufolge zielt das Drängen der USA nicht darauf ab, die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen. Vielmehr sei es ein kalkulierter Versuch, der Regierung in Kiew die Unterstützung der Länder zu sichern, deren Bürger einen Krieg über viele Jahre hinweg befürchten.“[49] Allerdings ist Kiew nicht bereit, dem nachzugeben, sondern bekräftigt seine Forderungen: Erst nach Abzug der russischen Truppen seien sie zu Verhandlungen bereit.[50] Die Rückeroberung sämtlicher Gebiete solle 2023 geschehen. Dazu gehöre auch die Zerschlagung der Schwarzmeerflotte.[51]

Die ukrainische Ansage, im kommenden Jahr sämtliches von Russland besetztes Gebiet, die Krim eingeschlossen, wieder zurückgewinnen zu wollen, ist illusorisch. So nachvollziehbar und legitim das Vorhaben auch sein mag: Militärexperten weisen immer wieder darauf hin, dass es für den Angreifer, in diesem Fall ist es die Ukraine, im Feld einer dreifachen Überlegenheit bedarf und in überbautem Gebiet, also Städten und Gemeinden, sogar einer sieben bis zehnfachen Überlegenheit an Mensch und Kriegsmaterial, um den Verteidiger, in diesem Fall die Russen, zurückzudrängen. Das ist angesichts der Aufstockung der russischen Truppen und der russischen Kriegsmaterialfülle unrealistisch.

Wenn es stimmt, dass Russland tatsächlich mehr als 1.000 Kampfpanzer eingebüßt hat, so ist das materiell verkraftbar, denn Russland verbleiben noch 2.000 im Einsatz. Es kann sich aber auch aus seiner Reserve von 10.200 Kampfpanzern bedienen, darunter 3.200 moderne T-80 und 200 T-90 sowie 7.000 T-72. Ähnlich üppig gefüllt sind die russischen Lager mit Artilleriesystemen.[52]

Die Materialausstattung der Ukraine sieht dagegen ganz anders aus. Die Neue Zürcher Zeitung gibt Ende August wieder, was die ukrainische Armee „für eine Großoffensive an Waffenlieferungen brauchte: […] 1.400 Panzer, 1.500 Haubitzen und 50 bis 60 Himars Raketenwerfer.“[53] Um danach hinzuzufügen: „Dass der Westen weder rüstungstechnisch noch politisch in der Lage ist, diese Wünsche zu erfüllen, dürfte auch Präsident Selenski  und seinen Beratern klar sein.“ Diese Feststellung geschieht vor dem Hintergrund der folgenden Aussage in derselben Zeitung vom Vortag: „Gute Quellen sagen, dass die Panzerkräfte der ukrainischen Armee praktisch zerschlagen sind.“[54]  Militärtechnisch hat sich seitdem trotz massiver westlicher Waffenlieferungen daran nichts geändert.

Die Hoffnung, die Kiew treibt, ist, Russland weltweit zu isolieren, seine Wirtschaft so zu schwächen, dass das Militär und die russische Gesellschaft kriegsmüde werden und aufgeben.

Russlands Wirtschaft

Trotz beispiellos harter Wirtschafts- und Finanzsanktionen ist der bisherige Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts  eher moderat. War die Bundesregierung noch im September von einem Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um bis zu 15 Prozent ausgegangen, so liegen aktuelle Prognosen von IWF, Weltbank und dem Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) für Russland für dieses Jahr  zwischen – 3,5 und – 4,5 Prozent. Für kommendes Jahr sagt das WIIW für Russland ein Minus von 3 Prozent voraus.[55] Diese Rückgänge sind für Russland noch im Rahmen einer normalen Schwankungsbreite. So betrug das Minus der BIP im Jahr 2017 zum Beispiel 2,3 Prozent.

Die Sanktionen werden offensichtlich auch bis Ende 2023 keinen durchschlagenden Erfolg haben. Selbst das europäische Ölembargo, dass ab nächstem Monat 90 Prozent der russischen Ölexporte in die EU betreffen wird, wird für Russland verkraftbar. Zudem sind die Sanktionen weitgehend ausgereizt. Die NATO-Staaten setzen auf die mittelfristige Wirkung – also etwa auf einen Fünf-Jahres Zeitraum. Ihr Exportstopp von fortschrittlichen Technologieprodukten, wie Sanktionen auf Halbleiter und Ersatzteile für Flug-und Raumfahrt soll den qualitativen Durchbruch bringen, so dass die russischen Kriegsmaschinerie zusammenbricht, die russische Bevölkerung den Aufstand gegen Putin wagt oder ihn nicht nochmal 2024 zum Präsidenten wählt.

Die ukrainische Wirtschaft

Die Frage ist nur, werden Regierung und Bevölkerung  der Ukraine das solange durchhalten? Schon vor dem Krieg hatten die Ukrainer das geringste Pro-Kopf-Einkommen in Europa. Ausländische Unternehmen verlassen das Land: Von Jahresbeginn bis Mitte August sind es 78 Prozent weniger. Die Weltbank ermittelte, dass die Armut in der Ukraine sich in Folge des Krieges verfünffacht habe, von 5,5 auf 25 Prozent.[56] Das WIIW schätzt den Rückgang der ukrainischen Wirtschaft in diesem Jahr auf 33 Prozent, allerdings soll sie im kommenden Jahr wieder um 5,5 Prozent wachsen.[57] Wie das angesichts des Krieges geschehen soll, vermag ich allerdings nicht nachzuvollziehen. Die ukrainische Wirtschaftministerin traut diesen guten Zahlen offenbar auch nicht. Sie geht für dieses Jahr von einer Schrumpfung um 39 Prozent aus. Ein Teil des Rückgangs ist der Fluchtbewegung geschuldet. Wir haben vorhin gehört, dass die Bevölkerung um 18 Prozent geschrumpft ist.

Die NZZ konstatierte schon Ende August: „Die ukrainische Wirtschaft nähert sich dem Kollaps; das Land ist deshalb nur mit westlicher Finanzhilfe überlebensfähig.“[58] Mit anderen Worten: Ohne westliche Hilfe wäre der Krieg vorbei. Selenskis Wirtschaftsberater Ustenko sagt, die Ukraine braucht im nächsten Jahr vom Westen 8,9 Milliarden Euro im Monat, je ein Drittel sollen USA, EU und der IWF übernehmen. Ob es so viel werden, ist nicht klar. Es wären zusammen 107 Milliarden Euro im ganzen Jahr. Und das bei einem BIP der Ukraine von lediglich umgerechnet 135 Milliarden Euro in diesem Jahr.

Die EU tut sich schon jetzt schwer mit ihren Zahlungen, hat aber angekündigt im kommenden Jahr 18 Milliarden Euro aufzubringen, um damit ein Drittel des Haushaltsdefizits zu finanzieren, wie Ursula von der Leyen offiziell ankündigte.[59] Daraus errechnet sich gesamthaft ein Haushaltsloch von 54 Milliarden Euro. Die restlichen zwei Drittel des Defizits sollen USA und IWF stopfen. Folgende Frage stellt sich: Wie hoch ist eigentlich der prozentuale Anteil am ukrainischen Haushalt, der mit westlichem Geld unterhalten wird? Darüber schweigen sich die westlichen Regierungen nämlich aus. Die Höhe der geplanten ukrainischen Haushaltsausgaben für 2023 ist nicht veröffentlicht. Sie lässt sich lediglich indirekt bestimmen. Dazu hilft ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung von Mitte September, der zweierlei preis gibt: Erstes, die Hälfte des ukrainischen Haushalts würden ins Militär fließen und zweitens, das seien umgerechnet 31 Milliarden Euro. [60]

Daraus lässt sich leicht schließen, dass der ukrainische Haushalt  etwa 62 Milliarden Euro betragen wird. Die westliche Unterstützung von 54 Milliarden bedeutet einen Anteil von  sage und schreibe 87 Prozent. Klarer Fall: Allein der Westen hält die Ukraine am Leben. Übrigens,  die EU will die Rückzahlung der Kredite ab 2033 für 35 Jahre. [61]

Der ukrainische Wille in Regierung und Bevölkerung und die westliche militärische und humanitäre Unterstützung scheinen ungebrochen. Es bedarf keiner Hellseherei, um vorauszusehen, dass die russischen Regierung ihre Eskalationsdominanz weiter einsetzt und weiter systematisch die ukrainische Energieinfrastruktur zerstören wird. Es ist nicht mehr die Frage nach dem Ob, sondern nach dem Wann die ukrainische Seite einbricht.

Abgesehen davon hat der Westen klar gemacht, dass er sämtliche russischen Eroberungen inklusive der Krim nicht akzeptieren werde. Die Prognose ist einfach: Sollte Russland diese Territorien nicht wieder räumen, wovon freiwillig nicht auszugehen ist – eventuell erst nach Verhandlungen – bleiben die Spannungen selbst nach einem Waffenstillstand in Europa hoch. Die NATO treibt die Hochrüstung in Europa voran. Dazu dient die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels, was allein  in Deutschland zu Militärausgaben in Höhe von 100 Milliarden Euro pro Jahr ab Mitte dieses Jahrzehnts führen kann. Die NATO verdoppelt die Truppen an ihrer Ostflanke und steigert dort auch die schnell verfügbaren Soldaten von 40.000 auf 300.000, und diejenigen, die  binnen eines halbes Jahres dazukommen, gesamthaft auf 800.000. So ihr Plan. Die Folge: Kalter Krieg 2.0. Um von der Konfrontation in Europa weg zu kommen, muss die Aufrüstung von NATO und Bundeswehr verhindert werden.

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*Lühr Henken, ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (www.Friedensratschlag.de ), Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik (https://jenior.de/produkt-kategorie/kasseler-schriften-zur-friedenspolitik/ ) und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination (http://www.frikoberlin.de/ )

[1] Pia Lamberty, Corinne Heuer, Josef Holnburger, Belastungsprobe für die Demokratie: Pro-russische Verschwörungserzählungen und Glaube an Desinformation in der Gesellschaft, Research Paper, Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), November 2022, 9 Seiten, Vgl. auch FAZ 3.11.2022, Die Lügen des Kremls,  https://cemas.io/publikationen/belastungsprobe-fuer-die-demokratie/2022-11-02_ResearchPaperUkraineKrieg.pdf

[2] Wolfgang Richter, Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld, SWP-Aktuell Nr. 11, 11. Februar 2022, 8 Seiten https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A11_ukraine_russland_nato.pdf

[3] Bundesausschuss Friedensratschlag, Positionspapier, Juni 2022, 8 Seiten, S. 2 f. https://friedensratschlag.de/2022/06/baf-positionspapier-ukrainekrieg/

[4] Congressional Research Service, The U.S. Army’s Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW), 23.5.2022, 3 Seiten, https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11991

[5] International Institute for Strategic Studies, London, 2022, (IISS), The Military Balance 2022, Seite 31, 516 Seiten

[6] NDR Info, Streitkräfte und Strategien, 12.3.2022, Manuskript, 18 Seiten, S. 14 f, https://www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/streitkraefte_und_strategien/sendemanuskriptstreitkraefte160.pdf

[7] Congressional Research Service, updated 31.5.2022,  Andrew Feickert, The Army’s Multi-Domain Task Force (MDTF) 3 Seiten,, https://sgp.fas.org/crs/natsec/IF11797.pdf

[8] Dave Makichuk, Mach 5 Monster: Germany to Get Dark Eagle Missiles, Asia Times, 14.11.2021,

https://asiatimes.com/2021/11/death-at-mach-5-germany-to-get-lethal-dark-eagle-missile/

[9] Col. Mark Gunzinger, USAF (Ret.), Lukas Autenreid, Bryan Clark, Cost-Effective Long-Range Strike, 30.6.2021, https://www.airforcemag.com/article/cost-effective-long-range-strike/

[10] Dr. Rainer Böhme, dgksp-Diskussionspapiere, Dresden, März 2022, 151 Seiten, ISSN 2627-3470, S. 67f,  https://slub.qucosa.de/landing-page/https%3A%2F%2Fslub.qucosa.de%2Fapi%2Fqucosa%253A78553%2Fmets%2F/

[11] https://www.ostinstitut.de/files/de/2021/Ostinstitut_Vertrag_zwischen_der_RF_und_den_USA_%C3%BCber_Sicherheitsgarantien_OL_2_2021.pdf

[12] https://milex.sipri.org/sipri

[13] NATO, 31.3.2022, Defence Expenditure of NATO Countries (2014-2021), 16 Seiten, S. 7,  https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2022/3/pdf/220331-def-exp-2021-en.pdf

[14] Wolfgang Richter, Oberst a.D., Gedanken zum Ukrainekonflikt, 2.8.2022, 4 Seiten, https://www.zebis.eu/veroeffentlichungen/positionen/gedanken-zum-ukrainekonflikt-von-oberst-ad-wolfgang-richter/

[15] Münstersche Zetung 8.12.2021, https://www.muensterschezeitung.de/nachrichten/politik/weiterhin-spannungen-in-der-ukraine-krise-2501824

[16] FAZ 3.3.2022, Heftige Kämpfe im Süden und Osten der Ukraine

[17] International Institute for Strategic Studies (IISS), The Military Balance 2022, S. 215, 20.000 in Donezk, 14.000 Luhansk

[18] https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine

[19] OSZE Special Monitoring Mission to Ukraine, Daily Report 37/2022, 12 Seiten, S.10, https://www.osce.org/files/2022-02-17%20Daily%20Report_ENG.pdf?itok=21446

[20] Rtde, 22.2.22, „Gemeinsame Verteidigung“ – Aus den Verträgen mit den Volksrepubliken Donezk und Lugansk

[21] FAZ 23.8.22, Wer grundlos lächelt ist schwach.

[22] ebenda

[23] NZZ 16.2.22, Scholz stärkt Selenski den Rücken

[24] FAZ 15.2.22, Scholz warnt Moskau vor Invasion

[25] DER SPIEGEL Nr. 13. 26.3.2022, S. 12

[26] ebenda

[27] ebenda

[28] FAZ 18.2.22, Das eine sagen, das andere tun.

[29] FAZ 19.2.22 Scholz: EU-Sanktionen sind abschließend vorbereitet

[30] 22.2.22, https://www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/selenskyj-einer-von-uns-luegt-li.212932

[31] ebenda

[32] FAZ 19.2.22 Scholz: EU-Sanktionen sind abschließend vorbereitet

[33] FAZ 21.2.22. Russische Truppen bleiben vorerst in Belarus.

[34] Markus Lanz, 22.3.22, ab 20:10 Min., https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-22-maerz-2022-100.html, Transskript des Autors

[35] Zu völkerrechtlichen Aspekten: Norman Paech, Krieg gegen die Ukraine – Renaissance des Völkerrechts? 8 Seiten, file:///C:/Users/Besitzer/Downloads/VDJ-Krieg%20gegen%20die%20Ukraine%20%E2%80%93%20Renaissance%20des%20V%C3%B6lkerrechts_%20-1.pdf

[36] Berliner Zeitung, 3.11.2022, https://www.berliner-zeitung.de/news/deutschlandtrend-umfrage-mehrheit-der-deutschen-wuenscht-sich-mehr-diplomatie-zur-beendigung-des-ukraine-kriegs-li.283444

[37] Wirtschaftswoche 10.9.22, https://www.wiwo.de/unternehmen/dienstleister/chef-der-ukrainischen-eisenbahn-wir-haben-zehntausende-beschaedigte-bahnanlagen/28671862.html

[38] Der Spiegel, 29.10.22, S. 88

[39] NZZ 27.10.22

[40] Ukrainisches Stromnetz, https://pressefreiheit.rtde.live/meinung/151927-video-neue-lenkflugkorperangriffe-auf-infrastruktur-ukraine-vorbote-grossofensive-russlands/

[41] Der Spiegel 29.10.22, S. 89

[42] Der Spiegel 29.10.22

[43] FAZ 13.10.22 Es wird dunkel

[44] FAZ 11.11.22, Kiew trotzt der Dunkelheit

[45] Tagesschau.de 9.11.22, https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-mittwoch-181.html#Osteuropa

[46] FAZ 26.10.22

[47] FAZ 12.10.22 Putins teurer Terror

[48] NZZ 24.10.22, Iran möchte nun auch Raketen an Russland liefern.

[49] Tagesschau.de 6.11.22, https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-sonntag-221.html#USA-ermutigen-Ukraine-offenbar-zu-Verhandlungsbereitschaft

[50] NZZ 27.10.22

[51] NZZ 11.10.22, Der Angriff auf die Krim-Brücke zeigt die Schwäche der russischen Armee.

[52] In Friedenszeiten zählt Russland 5.875 Artilleriesysteme, in Reserve hält es 22.985 (davon 4.260 Selbstfahrende Artilleriesysteme) The Military Balance 2022, S. 194

[53] NZZ 23.8.22, Kiews „hybride Offensive“ in der Südukraine

[54] NZZ 22.8.22, So könnte die Ukraine Cherson zurückerobern

[55] FAZ 20.10.22

[56] FAZ 20.10.22

[57] FAZ 20.10.22

[58] NZZ 25.8.22. Der Widerstand ist ungebrochen

[59] FAZ 26.10.22

[60] NZZ 17.9.22 Die Militärausgaben für 2023 werden mit 29 Milliarden Franken angegeben. Bei einem Umrechnungskurs von 1,06 zu 1 ergeben sich 31 Milliarden Euro.

[61] Das BIP für 2021 gibt The Military Balance 2022 (S. 211) mit 181 Milliarden US-Dollar an, bei einem zu erwartenden BIP-Rückgang in Höhe von 39 Prozent errechnet sich für 2022 ein Wert von 130 Milliarden Dollar, somit etwa 135 Milliarden Euro.

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