Verhandeln statt Schlachten – Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg

Der folgende Text, verfasst von Ralf Feldmann, Mitglied im Bochumer Friedensplenum, begründet die Notwendigkeit von Friedensverhandlungen mit dem Grauen des Krieges:

„Ein Jahr Krieg in der Ukraine, ein Jahr Schlachten mit schwersten Waffen. Putins Rückfall in die Barbarei des Krieges bringt Tod und Verderben über die geschundenen Menschen in der Ukraine. Schlachten ist wörtlich zu nehmen. Menschen werden zu Tausenden geschlachtet. Ein ukrainischer Oberleutnant berichtete im Interview von seinem Schlachtfeld: Hunderte russische Angreifer seien kopflos ohne Deckung über die Leichen ihrer Kameraden nach vorn gestürmt und vom Abwehrfeuer niedergemäht worden. Aber auch: zu Kriegsbeginn waren wir in meiner Kampfeinheit zu 500, jetzt sind noch 75 übrig. Aus den zerbombten Städten und Dörfern sehen wir tagtäglich Bilder des Grauens. In zerschossener Infrastruktur fehlt den Menschen das Lebensnotwendige. „Ich will, dass das endlich aufhört“, schrie ein Verzweifelter in Mariupol vor den Leichensäcken eines Massengrabes in die Fernsehkameras, „egal, wer da oben regiert.“ Genau darum geht es ein Jahr nach Kriegsbeginn: dass das endlich aufhört! Das ist nicht nur Sache Russlands und der Ukraine. Wer Waffen liefert, hat eine eigene Verantwortung dafür, dass der Krieg – mit Kompromissen – endlich aufhört.

Unsere Lieferanten von Schlachtwerkzeug reden nicht vom Schlachten. Wir selbst sind ja gar nicht im Krieg, sagen sie. Waffen würden nur zur Verfügung gestellt, um Leben zu retten. Schwere Panzer als Lebensretter: so sollen wir uns das vorstellen. „Gamechanger“ könne der Leopard werden, sagt frisch im Amt der Verteidigungsminister. Der Krieg ein Spiel – welche Sprache. Hohe Militärs aber warnen: Weder Russland noch die Ukraine können den Krieg militärisch gewinnen. Stattdessen ein endloser Stellungs- und Abnutzungskrieg mit fürchterlichen Folgen für die Zivilbevölkerung und die Soldaten.

Wie viele Opfer bisher, wie viele Opfer noch? Darüber reden sie ungern. „Hunderttausende“, sagt – nach Freigabe der Leopardpanzer – der Bundeskanzler. Getötete und verletzte Soldaten und Soldatinnen sind auf beiden Seiten Staatsgeheimnis, die veröffentlichten Zahlen rauf und runter gelogene Propaganda zum Beweis eigener Überlegenheit. „Hunderttausende“, die Zahl des Bundeskanzlers, ist wahrscheinlich nicht hergeholt, für beide Seiten nicht. In der Zivilbevölkerung beklagt die Ukraine mehrere zehntausend Tote, allein 20.000 beim Kampf um Mariupol. 13 Millionen Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen auf der Flucht, 8 Millionen haben das Land verlassen, 17,6 Millionen benötigen humanitäre Hilfe. Mindestens 1 Billion Euro würde heute der Wiederaufbau des Landes kosten, Tendenz täglich steigend. Und doch sagt niemand von denen, die immer noch mehr Waffen verlangen, wie viele weitere Opfer für sie noch akzeptabel sind, wie lange sie den Krieg noch befeuern wollen.

Und für welche Kriegsziele überhaupt? „Hilfe, solange die Ukraine sie braucht“ ist die Formel, hinter der sie sich verstecken. Hilfe wozu? Für das illusorische Ziel, alle russisch besetzten Gebiete zurückzuerobern bis hin zur Krim? Dieser Krieg ist Krieg auf den atomaren Endzeit-Arsenalen in Ost und West. Die sind geeignet, die Welt mehrfach in Schutt und Asche zu legen. Wer sich da immer noch wie in einem Spiel fühlt: der Gegner ist zweifellos bereit, über Leichen zu gehen – und unberechenbar, das hat er bewiesen. Warum sollte er in die Enge getrieben am Ende auf finale Gamechanger, auf Atomwaffen, verzichten?

Dennoch werden die Rufe lauter zu eskalieren, im nächsten Schritt Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe an die Ukraine zu liefern. Noch steht das Nein des Bundeskanzlers dagegen. Noch hält der Verteidigungsminister das „für ausgeschlossen“. „Da würden wir uns in Dimensionen vorwagen, vor denen ich aktuell sehr warnen würde“, sagt er. „Aktuell“ heißt aber: nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Keine roten Linien mehr gegen welche Waffen auch immer, schallt es sogleich aus Washington, Berlin und vielen Nato-Ländern, sie werden sowieso nicht eingehalten. Beifall dazu aus den Kommentarbrigaden der Medien.

Wer da immer noch die Furcht vor einem atomaren Dritten Weltkrieg als völlig unrealistisch kleinredet, spielt weiter – mit unserer Existenz. Immer mehr Menschen machen ihre Angst jetzt öffentlich: in Leserbriefen, Internetblogs, Versammlungen und Kundgebungen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung bekennt sich in Umfragen zu dieser Angst. Realitätsblind sind nicht die, die sich fürchten, sondern die, die vor der Gefahr die Augen verschließen oder sie klar sehen und trotzdem auf nichts hoffen als schieres Glück. UN-Generalsekretär Guterres sagte jüngst vor der UNO-Vollversammlung in Anspielung auf den Beginn des Ersten Weltkrieges: „Ich befürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg hinein – ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.“ Die Gefahr einer weiteren Eskalation wachse. Das Risiko eines Atomkrieges sei so hoch wie seit Jahrzehnten nicht.

Deshalb: Vernunft, Realitätssinn und Diplomatie sind jetzt lebensnotwendig. Schluss mit dem Schlachten, Verhandlungen ohne Vorbedingungen! Noch setzen beide Seiten auf weiteres Blutvergießen, nicht nur der russische Aggressor, auch die ukrainische Führung, die Verhandlungen per Dekret verbietet. Gut sechs Wochen nach Kriegsbeginn im April letzten Jahres war die Tür einen Spalt weit geöffnet für Verhandlungen über Waffenstillstand und Eckpunkte eines Friedensprozesses. Eine vertane Chance. Daran erinnern hohe Militärs; sie warnen eindringlich davor, grenzenlose Waffenforderungen zu erfüllen, ohne zugleich ernsthafte Verhandlungsbereitschaft zur Bedingung zu machen.

Die Bundesregierung muss jetzt endlich konkrete diplomatische Initiativen für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen ergreifen. Das ist ihre Verantwortung für den Frieden. Die Gesprächskanäle nach Russland müssen offen bleiben. Erschreckend aber: Die Außenministerin setzt nicht auf Diplomatie, sondern auf militärische Stärke, nukleare Abschreckung, erklärt sich ohne Scheu gegen Russland im Krieg und warnt vor Kriegsmüdigkeit, egal, was deutsche Wähler von ihr denken, sagte sie. Es gab Friedensinitiativen aus Italien, Mexiko, der Union Afrikanischer Staaten, jetzt aus Brasilien. Warum nicht aus Deutschland?

Verhandlungen erfordern Bereitschaft zu Kompromissen, Maximalforderungen sind dabei verhandelbar. Diplomatische Initiative heißt jetzt Aufruf an alle Beteiligten zum Kompromissfrieden. Am Ende des Krieges wird weder die Ukraine ein Teil Russlands sein noch werden alle zurzeit russisch besetzten Gebiete wieder zur Ukraine gehören. Das ist die realistische Perspektive. Wer daran zweifelt, muss sagen, wie lange er für seine maximalen Ziele noch kompromisslos Krieg führen will und wie viele Menschen noch sterben sollen für alles oder nichts. Dabei geht es nicht darum, der Ukraine vorzuschreiben, zu welchen Bedingungen sie Frieden machen sollte. Unverzichtbar ist aber, das eigene deutsche und europäische Interesse an einem Kompromissfrieden zum Ausdruck zu bringen, statt unser Land immer mehr in einen endlosen Krieg zu verstricken. Zu gewinnen gibt es nichts außer Frieden.

Der Weg zum sicheren Frieden wird wahrscheinlich lang und mühevoll. Sofortiger Waffenstillstand ist jetzt die dringendste Forderung, nicht erst nach zigtausend weiteren Toten. Wenn die Waffen ruhen, muss Wiederaufbau beginnen, der den Menschen in der Ukraine wieder Hoffnung und Zukunft gibt. Das ist eine riesige und gemeinsame Aufgabe – für alle, die jetzt am Krieg beteiligt sind. Am Ende des Wiederaufbau- und Friedensprozesses müssen die Menschen selbst, nicht die Machthaber, bestimmen und darüber abstimmen können, wie und in welcher staatlichen Organisation sie leben wollen.

Dafür, nicht für neues Wettrüsten brauchen wir Milliarden, alle Mittel und Kräfte. Neues Wettrüsten – das ist wieder und wieder die Lehre aus dem Ukrainekrieg – würde die Welt nicht friedlicher und sicherer machen, sondern uns weiter an den Abgrund des eigenen Untergangs führen. Die Uhr zum atomaren Weltuntergang ist mit dem Ukraine-Krieg auf 90 Sekunden vor zwölf vorgerückt. Hochrüstung verschlingt das, was wir zur Lösung der großen Aufgaben unserer Zeit dringend benötigen: für den Schutz unserer natürlichen Lebensbedingungen, gegen Armut und Hunger in der Welt, für Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit. Weltweit miteinander nicht gegeneinander. Das ist die Zeitenwende, die wir schaffen müssen: durch Verhandlungen. Frieden ist die Grundbedingung für diese Zeitenwende. Ohne Frieden ist alles nichts.“

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